Vielleicht war ihm einfach nur langweilig. Thomas verlässt seine Familie ein paar Stunden nachdem sie aus den Sommerferien zurückkehren. Dabei ist doch alles so schön, er hat eine liebe Frau, zwei herzige Kinder, ein hübsches Haus mit Garten, und verbrachte gerade die Sommerferien am Meer. Vielleicht zu schön? Es ist kein Abschied mit Ansage, weder gab es eine Vorwarnung noch sonst ein Zeichen, und der Weggang erfolgt auch nicht entschlossen und zielgerichtet, sondern zögerlich und planlos. Er nimmt nichts mit, sondern schaut nochmals zurück und geht dann mal los, als die Nacht beginnt. Es ist auch keine Flucht, was dann beginnt, sondern eher eine Wanderung im Schutz der Dunkelheit. Und dann erzählt Peter Stamm aus Thomas’ Leben – zumindest zwischen den Zeilen.
Peter Stamm:
Kein Wort zu viel

Der Meister der kurzen Sätze und der nüchternen Sprache hat wieder zugeschlagen. Seit Peter Stamm, geboren 1963, mit seinem ersten Roman «Agnes» fulminant gestartet ist, gehört das karge lakonische Erzählen von normalen Geschichten mit normalen Menschen zu seinem Markenzeichen. Peter Stamm hat für seine Werke zahlreiche Preise erhalten, zuletzt den «Friedrich-Hölderlin-Preis 2014».
Die Schilderung gerät zu einer monotonen Aufzählung dessen, was Thomas unterwegs tut, sieht und denkt. Emotionen sind da nicht viele enthalten, und es passiert eigentlich auch nicht viel Aufsehenerregendes. Als er mal in einem Puff landet, trinkt er zwei Bier, plaudert ein wenig und zieht dann wieder weiter. Alles ziemlich runtergedimmt also, alles irgendwie kein grosses Problem, keine grosse Not. Aber warum läuft er denn weg? Thomas liebt seine Frau Astrid und die beiden Kinder, er macht seinen Job als Buchhalter gern und spielt regelmässig Volleyball in einem Verein. Zu viel Routine und zu wenig Abwechslung? Hat ihn das Gewohnte erdrückt, die Langeweile ihm den Atem genommen? Wir erfahren es nicht. Weil uns Stamm Erklärungen erspart, bleibt viel Raum für eigene Gedanken. Vermutlich kennt jeder diesen Impuls, weglaufen zu wollen, endlich alles Mühsame hinter sich lassen zu können. Gerade wenn man Kinder hat, gibt es Momente, in denen man einfach flüchten möchte. Man stellt sich vor, wie man an einem anderen Ort mit anderen Menschen ein anderes Leben aufbauen und glücklich sein wird. Dann denkt man an die Angehörigen, daran, wie sie leiden und sich hintersinnen, warum man das getan hat. Und schon krebst man in Gedanken wieder zurück, beruhigt sich und kommt halb verdrängend zum Schluss, dass doch alles gar nicht so schlimm ist. Thomas krebst nicht zurück, er geht und überlässt es seiner Frau, den Kindern seinen Entschluss zu erklären. Weit kommt er allerdings nicht, auch wenn es so im Titel steht, und vielleicht ist das ja symptomatisch für den vermeintlichen Ausbruch. Er schafft es aus der Ostschweiz gerade mal ins Tessin und zerreisst auch in seinem neuen Leben keine grossen Stricke.
Christine Schnapp
Peter Stamm:
Weit über das Land
Fischer-Verlag,
Frankfurt am Main 2016.
224 Seiten, ISBN 978-3-10-002227-1.