Vor zwei Wochen ist Martin Walsers neuer Roman «Statt etwas oder Der letzte Rank» erschienen. Der schweizerische Begriff «Rank» steht für Kurve, aber auch für Wendung. Im Falle von Martin Walser ist es offenbar der letzte Versuch, die Kurve zu kriegen. Der Verlag preist das Buch mit dem Satz an: «Hier erzählt einer, der auf sein Leben zurückblickt und begreift.»
Ein Buch von:
Martin Walser

Der 1927 geborene Martin Walser besuchte in Lindau am Bodensee das Gymnasium, studierte in Regensburg und Tübingen Literatur, Geschichte und Philosophie und gehört heute zu den bedeutendsten Schriftstellern Deutschlands. 1981 erhielt er den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandles und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Ein immer wiederkehrendes Motiv Walsers ist das Scheitern am Leben und an den eigenen Ansprüchen.
Mehr dazu:
«Ich bin, also bin ich» – ein Artikel von Roman Bucheli über Martin Walsers neues Buch «Statt etwas oder Der letzte Rank» im Feuilleton der «NZZ».
«Ein Treffen mit Martin Walser» – ein Interview des Senders SWR mit Martin Walser zu seinem neuen Buch «Statt etwas oder Der letzte Rank».
«Über die Sprache hinaus» – ein Audioporträt des neuen Buches von Martin Walser «Statt etwas oder Der letzte Rank» von Jörg Magenau auf Radio «Deuschlandfunk Kultur».
«Wer A liebt, muss auch B verführen» – ein Artikel von Richard Kämmerlings über Martin Walsers Roman «Statt etwas oder Der letzte Rank» in der «Welt».
Es war das Wort «begreift», das mich das kleine Buch kaufen liess. Ich wollte wissen, was der neunzigjährige Walser, der mit zahlreichen Preisen Gefeierte, in diesem schwer erfassbaren Leben begriffen hat. Nach der Lektüre der 52 Kurztexte bleibt eine Konklusion: Die Einsamkeit ist allgegenwärtig, sie zu überwinden eine Lebensaufgabe und die Liebe eine grosse Hilfe dabei. Aber bei Martin Walser scheint es beim Versuch geblieben zu sein: Die Sehnsucht, von möglichst vielen geliebt zu werden, bliebt ebenso unerfüllt wie der Wunsch, es allen recht zu machen. Die Konsequenzen sind tiefe Verletzungen und entsprechend viel negative Gefühle. Auch das Leben des so erfolgreichen Martin Walser war offenbar ein Desillusionierungsprozess. Das lässt sich nicht aus der Handlung des Romans ableiten, weil das neue Walser-Buch gar kein Roman mit einer Handlung ist. Die 52 Kurztexte sind Monologe eines Erzählers, der oft dem Autor Walser so nahesteht, dass er Walser sein muss. «Vermieden bis jetzt das, was Gewissen heisst. Dazu muss ich so weit weg von mir, dass ich mich Er nennen darf.»
Und wie es offenbar sehr alten Männern eigen ist, bereitet die Thematisierung erotischer Erinnerungen eine gewisse Lust. Walser liebte die Frauen. «In dir tobte eine Umarmungsbereitschaft, eine Entzündbarkeit, ein Nirgends-mehr-sein-Wollen als jetzt hier.» Den Gegenpol dazu bilden die schlechten Gefühle gegenüber Gegner und Feinden, zu denen auch längst verstorbene Kritiker gehören. «Also, Unrecht erleiden machte aus dir mehr, als du warst. Unrecht erleiden wurde deinem Wesen zum Reichtum.»
Walser hatte offenbar ein Lebensprogramm: «Ich wollte mir nicht verloren gehen.» Und langsam fand er in seinem langen Leben alles in sich selbst: «Plötzlich erlebte ich, dass ich es ohne Grund wert war, mir nicht verloren zu gehen.» Das Büchlein endet unter dem Titel «Friedensfeier» mit Text 52: «Endlich mit den Armen nur noch umarmen, auch die Fallensteller, die Untersteller. Den Mund zu nichts mehr brauchen als zum Küssen.» Walsers Motto am Lebensende: Versöhnen und lieben. Ein schönes Buch, das bei den deutschen Kritiken keine Gnade fand. Zu Unrecht.
Anton Ladner
Martin Walser:
«Statt etwas oder Der letzte Rank»
Rowohlt-Verlag, Berlin 2017.
176 Seiten. ISBN 978-3-498-07392-3.